Donnerstag, November 21, 2024

„Knocking at My Cellar Door“

– Neil Youngs rätselhafte Archives-Politik und ein weiteres wunderbares Konzert

Das Datum könnte glatt absichtlich gewählt sein, alter Schlingel Neil. Ausgerechnet am Nikolaustag erscheint in Deutschland eine neue Ausgabe (so kann man es langsam nennen) der Neil Young- Archives-Performance-Serie. Es passt: Der legendäre Bischof und der legendäre Young haben vielleicht mehr gemein, als man zunächst glauben möchte. Werden doch zumindest im Volksglauben beide als gelegentlich polternde, grundsätzlich aber gutherzige und mildtätige Menschen wahrgenommen. Zugegeben, da hört die Ähnlichkeit wahrscheinlich auch schon auf.

Die Veröffentlichung von Neil Yong Live At The Cellar Door kam jedenfalls plötzlich. Zumindest mich hätte sie nicht weniger überrascht, hätte sie plötzlich am Nikolausmorgen im Stiefel gesteckt. Solchen Dingen begegnet man manchmal mit Misstrauen. Noch dazu provoziert ein erster Blick auf die Setlist (siehe unten) die Frage, ob man noch ein live-Album mit diesen Liedern braucht. Die Scheibe ist in der Tat ein Kuriosum und nicht gerade wenig verwunderlich. Und das vor allem aus zwei Gründen. Zum einen hat Young im Oktober 2009, in ei nem Interview mit der amerikanischen Fachzeitschrift Guitar World, im Zusammenhang mit Archives Vol. 1 noch erklärt, der Mitschnitt des Konzerts im Cellar Door biete für eine eigenständige Veröffentlichung zu wenig gute Takes. Er werde deshalb wahrscheinlich sukzessive einzelne Songs als kostenlosen Download für Käufer der BluRay-Version von Archives Vol. 1 anbieten.

Da horcht der Fan natürlich auf: Warum soll denn ausgerechnet jener Auftritt jetzt doch herauskommen? Vor allem – und da sind wir schon beim zweiten Punkt – da es sich bei dem Konzert um einen Auftritt vom Dezember 1970 handelt. Er fällt also in eine Schaffensphase, die man mit Archives Vol. 1 erschöpfend behandelt glaubte. Vol. 2, verriet Young in demselben Interview, werde sich mit den Achtzigern beschäftigen und wesentlich schneller als Vol. 1 erscheinen – was, das musste er im nächsten Satz selber zugeben, nicht allzu schwierig se in dürfte. Aber die damals angepeilten zwei, drei Jahre hat er dann doch nicht geschafft. Die Aussicht auf weitere Achtzigerjahre-Aufnahmen aus den Youngschen Archiven dürfte den meisten Fans und Kritikern statt Vorfreude eher ein leichtes Gruseln verursachen, stammen aus dieser Zeit doch selbst von vielen hartgesottenen Fürsprechern ungeliebte Alben wie „Everybody's Rocking" und „Landing on Water". Neil probierte einen Stil nach dem anderen durch, ging mit der verstörenden Trans-Show samt Vocoder im Gepäck auf Tour und sprang unvermittelt von der Latzhose in den pinken Rockabilly-Anzug. Elliott Roberts machte demgegenüber dem Sound & Vision-Magazin 2009 die etwas schlüssigere Angabe, Vol.2 werde die Jahre 1972 bis 1982 zum Gegenstand haben.

Tatsache ist jedenfalls, dass man sich über ein 1970er Konzert mitunter mehr freut als über obskure Achtziger-Ausgrabungen. Oder doch nicht? War nicht „ ;A Treasure" genau das – ein richtiger Schatz, den niemand erwartet hatte? Welche Schätze mögen in den anscheinend unerschöpflichen Archiven des Sammlers und Chronisten sonst noch schlummern?

Nun, was das Cellar-Door-Konzert angeht wäre es zumindest nicht das erste Mal, dass Neil Young seine Meinung geändert hat. Die Antwort könnte allerdings auch eine kleine Notiz im beigelegten Zettel geben, die verrät, dass die Aufnahmen zwischen dem 30. November und dem 2. Dezember 1970 gemacht wurden. Vielleicht lag Young 2009 erst ein Mitschnitt vor und seither wurden mehrere geborgen. Das hätte seine Auswahlmöglichkeiten erweitert und so konnte er vielleicht doch genügend qualitativ hochwertige Takes finden. Es gibt allerdings ein paar Stellen, an denen merkt man, was er 2009 meinte mit „we don't have enough takes to release it as its own disc": Er verhaspelt sich bei ein paar Songs am Klavier. Und dabei handelt es sich nicht um die übliche Youngsche Schludrigkeit des Spiels, sondern um tatsächliche Fehler. Kleine zwar, aber Fehler nichtsdestotrotz. Das ist bislang bei keiner live-Disc vorgekommen – oder zumindest nicht aufgefallen.

Aber ach! Wie kleinlich, solch menschliche Mängel zu bekritteln angesichts der zeitlosen Aura, dem kindlichen Staunen und der emotionalen Unmittelbarkeit, die Songs wie „Flying on the Ground is Wrong", „Only Love Can Break Your Heart" oder „Expecting to Fly" trotz (oder wegen?) der sparsamen Instrumentierung riesig und ewig klingen lassen! Viele der Songs von „After the Goldrush" kommen zur Aufführung und waren zum Zeitpunkt des Konzerts noch keine Klassiker, sondern erst zwei Monate zuvor auf Platte erschienen. Es wirkt im Nachhinein wie die Ruhe vor dem Sturm, wurde „Goldrush" doch zu einem der nicht nur im Young-Katalog ewigen Favoriten sondern a uch ein Lieblingsalbum und Inspiration vieler Singer/Songwriter. Im Spätherbst 1970 sitzt Young allein auf der Bühne in dem offenbar kleinen Club mit wenig Publikum, bedient mal Gitarre, mal Klavier, und spielt eine für seine Auftritte dieser Zeit typische Setlist (siehe unten). Die Lieder sind melodisch und lyrisch, und selbst wenn man sie schon tausende Male gehört hat, scheinen sie hier ihren Zauber besonders schön zu entfalten. Vielleicht auch, weil sie damals noch ganz jung waren. Und man hat die Stücke selten so nackt gehört (außer denen, die Young auch auf dem Massey Hall-Album spielt). Das harmonische Gerüst von „Only Love Can Break Your Heart" ist in dieser skelettierten Version auf jeden Fall für Gitarristen äußerst inspirierend – und nicht zuletzt herzergreifend. Auch gibt es, sehr interessant, Cinnamon Girl am Klavier zu bestaunen. Diesen genuinen Gitarren-Brecher quasi piano-balladesk umzudeuten ist eine jener Entscheidungen (und Umsetzungen), die einen wieder daran erinnern, mit wem man es zu tun hat: Hier ist ein Genie am Werk, das seinesgleichen getrost unter den Bob Dylans dieser Welt suchen kann. Und die sind, wie wir wissen, nicht allzu zahlreich. Und so gibt es selbstredend wieder wunderbare Momente auf diesem Mitschnitt, der wirkt wie eine logische Zwischenstation nach den Soloauftritten im Canterbury House (1968, NYAPS 00) und dem Riverboat (1969, NYAPS 01) und vor dem legendären Massey Hall-Konzert (1971 NYAPS 03). Auch der Sound ist irgendwo dazwischen anzusiedeln: Nicht mehr ganz so leise und verrauscht wie auf den beiden ersten Alben und noch nicht so riesig verhallt Arenenhaft wie in der Massey Hall. Die Instrumente klingen voll und klar, als wären die Aufnahmen gestern entstanden. Die Konzerte mit Crazy Horse im Fillmore East vom März 1970 (NYAPS 02) runden vor diesem Hintergrund das Bild ab von Neil Young als Künstler, der sich nur ungern auf eine Schiene festlegt (wo er doch so ein Eisenbahn-Fan ist).

Eine historische Qualität kommt „Live at the Cellar Door" auch noch zu: Hier findet sich die erste Performance von „Old Man", immerhin einer von Youngs wichtigsten Songs. Und nachdem inzwischen eine vergleichsweise ausführliche live-Dokumentation der frühen Young-Jahre vorliegt wird immer deutlicher, als was Neil Young die Archives verstanden haben will. Es geht ihm nicht um einzelne Songs, einzelne Phasen oder gar Alben. Ihm scheint vielmehr daran gelegen, sein Lebenswerk in adäquater Weise darzustellen. Wie es Ben Folds einmal so treffend gesagt hat: Mit Neil Young sei es wie mit einem Blues-Musiker, er könne auch mal einen schlechten Song schreiben und es sei o.k.; es ginge immer ums bigger picture.Viele Künstler der so genannten populären Musik kommen irgendwann an den Punkt, an dem sie ihre regulären Alben als einen Ausschnitt ihres Schaffens begreifen und dies auch kommunizieren wollen. Dylan tut dies seit den Achtzigern, Springsteen seit den Neunzigern, Petty konnte mit der riesigen Live-Anthology die live-Institution Heartbreakers angemessen würdigen. Young geht es noch eine Nummer (oder ein paar Nummern) größer an als seine Kollegen. So groß, dass man wirklich hoffen muss, dass er es überhaupt noch schafft! Dem Album liegt wie gesagt nur ein windiger Zettel bei, so wie schon bei „A Treasure", der nur die nötigsten Credits preisgibt. Aber das braucht einen nicht zu ärgern. Neil Young beansprucht für die Dokumentation seiner Musik mehr als nur Druckwerk. Die bisherige Vollendung seiner Vision erreichte er in der BluRay-Ausgabe von Archives Vol.1, die es erlaubt, gleichzeitig Foto-, Video- und Schriftmaterial zu studieren, während man einen Song hört, und zudem die Möglichkeit bietet, den mit diesen Dokumenten ges pickten Zeitstrahl durch Downloads aufzufüllen. Drunter will's Young offenbar nicht machen.

„Live at the Cellar Door" ist somit zwar nur ein winziges Steinchen in einem gewaltigen Mosaik. Das Bild, das es uns eines Tages (hoffentlich) zeigen wird, können wir bislang noch nicht einmal erahnen. Doch für sich genommen ist es ein wundervolles Stück Musik.

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