Freitag, April 19, 2024

Get Behind The Neil. Gedanken zu einem Neil Young-Konzert.

Wenn nur die Leute nicht wären. Zumindest manche davon. Quasseln die ganze Zeit, sind dabei lauter als die Band, nur um dann in nervenaufreibendes Gejohle zu verfallen, wenn endlich ihr Lieblingssong kommt. Aber der Reihe nach.

Dass in der Münchner Olympiahalle Sitzplatzkarten für Neil Young verkauft worden waren, kam uns gleich Spanisch vor. Neil hat das leider erst ein paar Stunden vor seinem Gig erfahren, oder es hat ihn vorher nicht interessiert, jedenfalls blicken wir auf eine unbestuhlte Arena. Über die Komplikationen, die das mit sich bringt, will ich hier gar kein Wort verlieren. Ist ja letzten Endes auch egal. Entscheidend ist, was passiert, wenn Neil auf die Bühne kommt. Dann ist sowieso alles andere vergessen (außer bei gewissen Teilen des Publikums, aber dazu später mehr). „Hey Hey, My My (Into The Black)“ ist so unerwartet wie unheimlich. Leider auch etwas zu leise, komischerweise, wie der größte Teil des Konzerts. Der Krach ist schön und aufsässig. Noch immer ist Paula die gemeinste Gitarre des Planeten. Und Neil scheint in bester Spiel- und Singlaune, bietet eine wundervolle Songauswahl. Die größten Überraschungen in der ersten Hälfte des Abends sind „Are You Ready For The Country?“ und „Pocahontas“, letzteres in einer umwerfend schönen elektrischen Version. Da blitzt zum ersten Mal das mythische Amerika des Neil Young auf, tun sich vor dem inneren Auge Landschaften auf, die es so vielleicht nur noch in Kanada gibt – Wälder, Berge, endlose Prärien. Als könnte man in Youngs Kopf gucken oder mit seinem Herzen sehen. Die Begeisterung steigert sich fast noch, als „Words“ folgt, der rätselhafte Gruselsong am Ende von Harvest. Danach stampfen Neil und die Band mit „Cinnamon Girl“ im gestreckten Galopp alles in den Boden und man erahnt als Zuhörer, der noch nie Crazy Horse live erlebt hat, wie diese Band klingen muss. Den Song nutzt Young um zu demonstrieren, dass er auch Stadionrock beherrscht, wenn er will. Herausfordernd stellt er sich an den Rand der Bühne, erleuchtet von roten Scheinwerfern, sodass einem angst und bange werden könnte. Großartig. Danach verschwinden plötzlich alle und ich fürchte schon, dass das Set zu Ende sein könnte. Ist es in gewisser Weise auch. Eine Orgel ertönt und eine Mundharmonika wie von der Veranda einer Farm im Wilden Westen. Zuerst denke ich, die schöne Melodie kommt aus der Konserve, was mich irritiert, doch dann bemerke ich Neil hinter seiner legendären Pump-Organ, die im Bühnenhintergrund fast versteckt ist. Das Lied ist „Mother Earth (Natural Anthem)“ von Ragged Glory und wesentlich ergreifender als dort. Spätestens jetzt ist man vollends im Kosmos Neil Youngs versunken, alles war da bisher: Zeitkritik, Indianer, Hippietum. Eine wohlige Wärme stellt sich ein und Neil leitet den akustischen Teil des Abends ein. Allein zur akustischen bringt er „Don’t Let It Bring You Down“, das ihn als wirklich etwas schlampigen Gitarristen entlarvt. Ist aber völlig wurscht. Während der nun folgenden Perlen „Goin’ Back“ und „On The Way Home“ fallen mir nun zum ersten Mal meine enervierenden Mitzuhörer auf. Eine Frau drängt sich zu ihren Kumpels, mit Bierbechern, aus denen sie sich offenbar schon selbst ausgiebig bedient hat. Ausgerechnet im Akustikset muss diese Krawallnudel neben mir stehen. Ich versuche sie zu ignorieren, schließlich hat auch sie ihren Spaß am Konzert verdient, obwohl sie unqualifizierte Kommentare zu den Reparationszahlungen herumposaunt („Das ist Sozialismus á la Steinbrück!“). Immerhin kann ich mich so weit konzentrieren, dass ich den Songs folgen kann. Die Band hat ganz schön zu tun, auf jede Bewegung Neils aufzupassen wie die Schießhunde. Offenbar verändert er Abläufe und Schlüsse, die Setlist wahrscheinlich sowieso, und bringt damit seine Mitmusiker, die sich keine Blöße geben, ganz schön ins Schwitzen. Das ist ein bisschen schade, denn wenn sie entspannt spielen könnten, käme sicher noch mehr an. So sind es hauptsächlich Neil, der optisch rockt, und seine Gitarren, die wunderschön wummern und lärmen, die im Zentrum dieses Orkans stehen. Besonders bei „Goin’ Back“ fällt mir auf, wie arg die Band auf Neils Timing acht geben muss. Die Band an sich besteht eher aus (extrem talentierten) Erfüllungsgehilfen, aber das ist keine Überraschung. Fast hätte ich darüber meine störenden Nachbarn vergessen, als „Unknown Legend“ ertönt und die ohnehin kein Blatt vor den Mund nehmende Dame neben mir in frenetisches Gejohle ausbricht. Bitte, kein Ding, soll sie ruhig. Doch dann singen sie und ihr Freund auch noch mit. Ich muss unbedingt den Platz wechseln.
Erst bei „Down By The River“ hat mich die Neil Young-Welt wieder. Schade, „Comes A Time“ hätte ich gerne mehr genossen. Es ist überhaupt ein großes Glück, diese beiden Seiten der kanadischen Westcoast-Legende live erleben zu können: Die elektrische und die akustische. An einem Abend! Ein bisschen fühle ich mich an die Red Rocks Live-DVD erinnert, die eine ähnlich gemischte Auswahl bietet, aber Akustik-lastiger ist. Jedenfalls kommt im unaufhaltsamen Malstrom des Klassikers auch die Band mal zum Zuge. Vor allem Chad Cromwell scheint enstpannter und traut sich mehr, vermutlich weil er endlich mal laufen lassen kann, ohne ständig auf der Hut sein zu müssen. Eine weitere Lektion lerne ich dabei: Zeit spielt im Young-Kosmos keine Rolle. Ein Song dauert so lange, wie ein Song eben dauern muss. Eine Viertelstunde dröhnt die Band durch „Down By The River“, und es wird sowohl immer großartiger als auch endlich immer lauter. Außerdem war der neueste Song bisher siebzehn Jahre alt („Unknown Legend“). Neil kann es sich erlauben, eine Zeitspanne seiner Karriere auszulassen, die länger ist als die Karrieren der wohl meisten Bands und Künstler. Und die vermutlich länger ist als das Mädchen vor mir alt; es ist mit seinen Eltern da und blickt sich verwundert um wie ein Alien, das aus Versehen hier gelandet ist. Da kann einem schon schwindlig werden. Für Young sind das alles wahrscheinlich keine Kategorien. Trotzdem wären ein paar Songs von Sleeps With Angels, Living With War, Prairie Wind, Chrome Dreams II, Silver And Gold oder „Goin’ Home“ von Are You Passionate? schön gewesen. Ja, Neil, Du hast gute Alben nach Harvest Moon aufgenommen! Ist ihm vermutlich gerade wurscht. Oder es fällt ihm ein, denn jetzt stimmt er „Get Behind The Wheel“ von Fork In The Road an. Das ich immer noch nicht habe, weil’s selbst für Young irgendwie schlampig klingt. Trotzdem rockt die Nummer. Aber die Frage stellt sich schon, warum nicht mehr vom neuen Album gespielt wird. Entweder Neil ist selber nicht so davon überzeugt oder er denkt an die Leute, die ihn nicht so oft sehen wie die Amerikaner und gern alte Favorites hören. Geht mir ja auch so. Vielleicht will er auch an seine Archives erinnern. Oder er ist im Kopf schon wieder ganz woanders und spielt einfach, worauf er Lust hat. Scheint mir das Wahrscheinlichste.
Ebenso unerwartet wie der Opener beendet „Rockin’ in the Free World“ das reguläre Set. Gigantisch, eine Augen öffnende Version. Episch und unendlich, Rock’n’Roll in seiner schönsten Form. Mehr davon! Aber nur eine Zugabe soll er geben, „A Day In The Life“ von den Beatles. 1979 hat das Original die Rust Live-Konzerte eingeläutet, im Jahr als ich geboren wurde, heute darf ich es von Young hören. Alles Verspielte der Liverpooler ist bei Young freilich abwesend. Der Song verwandelt sich in seinen Händen in das Unheil verkündende Monster, das er immer schon war. Im Soundgewitter zerlegt Neil die Old Black. Zumindest zerrt er alle Saiten heraus. Und das ist der größte Rock’n’Roll-Moment an diesem Abend, denn jetzt ist alles möglich. Wenn Larry ihm jetzt eine Kettensäge reicht und er anfängt, die Amps zu zerteilen, es würde mich nicht wundern. Im Gegenteil, es wäre nur konsequent. Ich ahne, wie das damals gewesen sein muss, bei Elvis, den Sex Pistols und Nirvana. Was Neil Young heute Abend abzieht, ist heftiger als all das und geht weit darüber hinaus. Er beherrscht den Rock’n’Roll, er hat ihn aufgesogen und verinnerlicht, aber er ist dabei nicht stehengeblieben. Die mystischen, traumartigen Reisen in die Vergangenheit eines unberührten Amerika und seiner Leiden sind Neils ureigener Anteil am Mythos des Rock’n’Roll.

Als die letzten Klänge von „A Day In The Life“ verklungen sind ist Ruhe. Danach kann einfach nichts mehr kommen.

Das war’s also. Was nehme ich mit nach Hause? Außer den zwei T-Shirts (eines habe ich mir gekauft, gleich als wir reingekommen sind; das andere haben wir als Entschädigung für die wertlose Sitzplatzkarte bekommen). Was mir vor allem aufgefallen ist: Die Alben fangen den Geist der Musik des Zeitlosen erstaunlich gut ein. Viele Bands wirken live ja anders, bringen ihre Musik besser (oder schlechter) auf den Punkt als ihre Studioaufnahmen das können. Neils live-Approach im Studio wird dem Konzerterlebnis ziemlich gut gerecht. Oder anders gesagt: Wenn man die Alben hört, ahnt man, wie ein Auftritt sich anhören muss.

Die alternativen Interpretationen seiner Songs allerdings sind nicht immer zwingend. Es bleiben Alternativen, keine Neufassungen, Umdeutungen, Kernsanierungen wie bei Dylan. Was kein Nachteil sein muss. Immerhin hat man die Melodien von „Pocahontas“ und „Don’t Let It Bring You Down“ liebgewonnen und freut sich, diese - wenn auch in anderem Gewand – auch live so zu hören. Das mag daran liegen, dass Neil Melodien wichtiger sind als Dylan (siehe Paul Zollos „Songwriters on Songwriting“).

Was es aber wirklich wert ist, es mit nach Hause zu nehmen, ist das Gefühl, mitgerissen worden zu sein. In einen Strom aus verzerrten Gitarren und Wohlklang, stampfendem Schlagzeug und perlender Pedal-Steel. So brillant Ben Keith und seine Bandkollegen sind: Ohne diesen Wüterich in ihrer Mitte, ihr Herz und ihren Kopf, kämen sie nicht so hoch hinaus. Neil Young ist einer der ganz großen, weil er nach fünfzig Jahren Musik noch immer Lust am Spielen, am Krach, an der Melodie und der Harmonie hat. Weil er immer noch tobt und wehklagt. Weil Musik für ihn immer noch eine emotionale und physische Erfahrung ist. Weil er einen mit seinen Soli und seinem Gesang noch immer ins Herz trifft. Völlig unabhängig davon, wie alt er oder wie alt man selber ist. Zeit spielt keine Rolle. Aber man kann eigentlich nicht darüber schreiben. Man muss es erleben.

Wider Erwarten waren wir nicht die Jüngsten im Publikum. Was mich sehr gefreut hat. Denn gerade als junger Mensch muss man mal gesehen haben, was wirklich, wirklich geiler Rock’n’Roll ist. Neil hat es uns gezeigt. Und noch sehr viel mehr.

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